Rolf Lindner
ifk Urban Fellow


Zeitraum des Fellowships:
01. Oktober 1998 bis 31. Januar 1999

Kulturwissenschaft und Wissenschaftsforschung



PROJEKTBESCHREIBUNG

Drei Arten "Stadtkultur" zu verstehen

Das merkwürdig Kurzatmige der meisten Veranstaltungen, die unter dem Rubrum "Stadtkultur" geführt werden, korrespondiert aufs trefflichste mit dem semantischen Taumel, der keine Zeit mehr läßt für Überlegungen, sondern nur noch für "Visionen". Die von Sehern bevölkerte postmoderne Landschaft, und zu diesen Sehern gehören Trendforscher ebensogut wie die Apokalyptiker des Cyberspace, ist durch eine Monotonie gekennzeichnet, die sich der Verschränkung von Selbstbezüglichkeit der Diskurse mit der taktischen Abwägung aktueller Marktchancen verdankt. Aber gerade darin liegt ihre Crux, ist doch auf taktische Einschätzungen, wie der Berliner Stadtplaner Dieter Hoffmann-Axthelm betont, "wesentlich weniger Verlaß, als auf die historisch erworbenen Fähigkeiten großer Städte, blindlings ihren Weg zu gehen und inmitten einer auf Weltzeit und Ortlosigkeit der Kapitalströme eingestellten Welt ihren angestammten Fehlern, Lastern und Überheblichkeiten treu zu bleiben". Vielleicht wäre dies- die Treue zu den angestammten Fehlern, Lastern und Überheblichkeiten eine erste ex negative getroffene Definition von Stadtkultur, die, bei aller Gefahr, in der "Mir san mir"-Mentalität steckenzubleiben, jeder dünnen Beschreibung von Stadtkultur haushoch überlegen ist, die in ihr nichts anderes zu sehen vermag als ein Faktorenbündel auf der Allokationsebene. Die ex negative getroffene Definition erinnert nämlich daran, daß Städte Eigenschaften besitzen, die nicht ohne weiteres durch urbanistisches Produkt- Placement zu ersetzen sind. Eine solche Erinnerung ist auch deshalb unerläßlich, weil sie uns zu der Einsicht nötigt, daß jedes Faktorendenken notwendigerweise an den Charakteristika vorbeigeht, die mit dem Kulturbegriff verbunden werden.

Diesem substanzlosen Verständnis von Stadtkultur sind drei Arten, "Stadtkultur" zu verstehen, entgegenzustellen, die auf unterschiedliche Weise deutlich machen, daß Stadt und Kultur untrennbar miteinander verbunden sind.

Verstanden als Urbanität ist die Kultur der Stadt weitgehend gleichbedeutend mit Offenheit: Offenheit sowohl im Sinne des Unvoreingenommen wie des Zugänglichen, im Sinne des Unentschiedenen wie des Widersprüchlichen, im Sinne des Experimentellen wie des Nicht-Planbaren. "Urbanität ist", wie Edgar Salin bereits 1960 formuliert hat, "nicht von Gesetzes wegen zu schaffen. Stadt ist vor allem ein Möglichkeitsraum geistiger und kultureller Orientierung." Um diesen Möglichkeitsraum zu erhalten, gilt es günstige Rahmenbedingungen zu schaffen, d.h. das Klima ru schützen, das zum Gedeihen von Urbanität vonnöten ist. Dazu gehört auch die olerierung sozialer und kultureller Außenseiter, denn es ist ein Fehler anzunehmen, daß man sich von diesen "Elementen" freimachen und gleichzeitig die kreativen, innovativen Impulse der städtischen Lebensführung erhalten kann. Die Freiheitsräume, die die große Stadt gewährt, sind unteilbar.

Die Kultur der Stadt bildet den Humus für das Aufblühen der distinkten Kulturen in der Stadt, für das charakteristische Neben- und Ineinander von ethnischen Lebenswelten, sozialen Milieus und kulturellen Szenen. ln den Kulturen der Stadt ist der Möglichkeitsraum Wirklichkeit geworden: auch Außenseiter und Exzentriker finden ein Milieu, das ihnen ermöglicht, ihre Anliegen, Neigungen und Talente zur Entfaltung zu bringen. In der Großstadt können noch die seltsamsten Fertigkeiten und Kenntnisse professionalisiert werden und eine Nische (sowohl im räumlichen wie im ökonomischen Sinne) finden. Die Großstadt ist daher eine Menschenwerkstatt, die die Spezialisierung ihrer Bewohner befördert, und eine Ideenwerkstatt die durch mediale Links nicht zu ersetzen ist. Jede Metropole muß, will sie denn eine sein, durch eine Vielfalt an Kulturen, Lebensstilen und Milieus gekennzeichnet sein. Diese Vielfalt aber ist nicht beliebig, sie ist historisch fundiert und grundiert, sie ist Abdruck von Geschichte und aus der Geschichte gewonnener Gegenwart.

Im historischen Längsschnitt prägt das Gesamt der distinkten Kulturen die singuläre Kultur einer Stadt, die sich in ihrer Kraft niederschlägt, Bilder zu erzeugen, Vorstellungen hervorzurufen und Erinnerungen zu wecken. In dieser Perspektive erweist sich die Stadt, in den Worten von Fernand Braudel, als ein "etre complique", als ein schwieriges Wesen, mit einer Biographie, mit bestimmten Eigenschaften und mit einem (guten oder schlechten) Ruf. Eine komplexe Konfiguration, die positivistisch Image genannt wird. Städte "verkörpern" aufgrund historischer Sedimentenbildungen bestimmte Ideen, bestimmte Anschauungen und Haltungen, bestimmte Normen und Werte. Sie sind keine unbeschriebenen Blätter, sondern "narrative Räume" (Sennett), in die bestimmte Geschichten (von bedeutenden Personen und wichtigen Ereignissen), Mythen (von Helden und Dämonen) und Parabeln (von Tugenden und Lastern) eingeschrieben sind. Mit der Zeit bilden diese Texte eine Textur, ein Gewebe, in dem die Stadt im wahrsten Sinne des Wortes "verstrickt" ist. Nirgendwo wird das deutlicher als an den Schwierigkeiten, ein neues Skript zu verfassen, das Imagekorrektur genannt wird. Diese kumulative Textur (Suttles) hat ein letztlich auf dem stadtprägenden ökonomischen Sektor beruhendes Thema, das zu einem stereotypen, in der Dauer verwurzelten Bild führt. So ist es beispielsweise kein Zufall, daß Los Angeles, die Welthauptstadt der Kulturindustrie, in den letzten Jahren zum Schauplatz filmischer Endzeitvisionen, zum postmodernen Global City-Szenario und zum Ort apokalyptischer Vorstellungen (in Mike Davis' "The Ecology of Fear") geworden ist.

Kultur der Stadt, Kultur in der Stadt und Kultur in einer Stadt, erst in diesen drei aufeinander bezogenen Dimensionen schält sich Stadtkultur soziologisch-anthropologisch heraus. Alle Maßnahmen des Stadtmarketing, dem es um Stadtkultur als Allokationsebene geht, müssen diese Vorgaben, bewußt oder unbewußt, berücksichtigen, um über den Tag hinaus erfolgreich zu sein. Denn Kultur ist keine Applikation, keine Verzierung, sondern durchtränkt das Soziale, gibt ihm eine bestimmte Färbung und eine Form.



CV

Professor für Europäische Ethnologie an der HumboldtUniversität Berlin. Mitherausgeber der Zeitschrift Historische Anthropologie und Redaktionsmitglied der Zeitschrift für Soziologie. Lindner veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zu Stadtsoziologie, Medien- und Populärkultur.



Publikationen

darunter: Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage (Frankfurt/Main, 1990); 1996 erschien eine erweiterte und überarbeitete englische Fassung mit dem Titel The Reportage of Urban Culture: Robert Park and the Chicago Schoo/ (Cambridge 1996); "Cultural Studies in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Rezeptionsgeschichte", in L. Grossberg/H.G. Klaus/R. Lindner/N. Rätzel (Hg.) Cultural Studies. Eine Intervention (Wien 1994); "Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land". Die Settlementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik (Hg., Berlin 1997).