Automatismus – Suggestion – Hypnose: Transferprozesse zwischen Schauspieltheorie und "Psychowissenschaften" um 1900
Insbesondere ab den 1880er-Jahren rücken Verfahren der Hypnose und Suggestion bzw. Zustände des Somnambulismus und der Trance, kurz: der „nichtbewussten Intelligenz“ (Dessoir), ins Zentrum psychowissenschaftlicher Aufmerksamkeit, mit dem Ziel, über die Erforschung dieser veränderten Bewusstseinsverhältnisse Aufschluss über die „verborgenen Sphären“ des Ich zu erlangen. Die Multiplizität des Ich bzw. das „ungeheure Rätsel der menschlichen Verwandlung“ (Bahr) sind auch zentrale Themen von Schauspieltheorien. Vor diesem Hintergrund lautet die These des Projekts, dass die schauspielerische Wandlungsfähigkeit um 1900 mit den psychowissenschaftlichen Theorien zum Unbewussten in einen diskursiven Austausch tritt. Das hat zur Folge, dass die identitätstheoretischen Überlegungen zur Schauspielerin nun vor einer neuen Episteme verhandelt werden, die diese fortan in Fragen des Bewusstseins und dessen Spaltbarkeit überführt, wodurch sich die verwendeten Begriffe, Konzepte und ästhetischen Prozesse verändern.
Rosemarie Brucher studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Germanistik und Komparatistik an den Universitäten Wien und Leipzig. Ihre mit dem Doc-Award der Universität Wien ausgezeichnete Doktorarbeit zu künstlerischer Selbstverletzung im Zeichen von Kants Ästhetik des Erhabenen erfolgte 2012 (transcript, 2013). Danach war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin bzw. als Vertretung einer Juniorprofessur an der Universität Wien sowie der UdK Berlin tätig und ist seit 2013 als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Theaterwissenschaft am Zentrum für Genderforschung der Kunstuniversität Graz beschäftigt, das sie auch stellvertretend leitet. Von 2014 bis 2016 war sie zudem als Max Kade Research Fellow und in der Folge als Visiting Assistant Professor am German Department der NYU. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Performance Art, Wiener Aktionismus, Subjekt- und Differenztheorie, Gender Studies und die Verschränkung von Kunst, Philosophie und Psychowissenschaften um 1900.
Publikationen (u. a.): „Mimesis und Identitätskritik: Schauspiel und die „Vielheit des Ich“ bei Platon, Diderot und Lacoue-Labarthe“, in: Forum Modernes Theater ( im Druck); „Das Narrativ der dissoziativen Identitätsstörung im Kontext ökonomischer Imperative“, in: Leviathan. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft (2014), H. 2, S. 191 – 217; Subjektermächtigung und Naturunterwerfung. Künstlerische Selbstverletzung im Zeichen von Kants Ästhetik des Erhabenen, Bielefeld 2013.
Mit Mai 2019 wurde Ass.Prof.in Dr.in Rosemarie Brucher zur Prorektorin bestellt und komplettiert somit das Rektorat der MUK (Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien). Sie war im Sommersemester 2018 IFK_Research Fellow. Wir gratulieren!
Coquelin beschreibt den/die Schauspieler_in 1894 als doppelte Persönlichkeit, Archer entwickelt 1888 eine Theorie des „automatic acting“, wonach Schauspiel über weite Teile unbewusst passiert, und Martersteig fordert 1900 einen Schauspielstil, der Hypnose und Suggestion berücksichtigt. Rosemarie Brucher geht diesen Einschreibungen des Dissoziativen auf den Grund.
Welches künstlerische Potenzial bergen Zustände des Halbbewusstseins? Was haben Somnambule mit Marionetten gemein? Und welche Vorzüge halten diese gegenüber herkömmlichen SchauspielerInnen bereit? Rosemarie Brucher geht diesen Fragen auf den Grund.
Ein Vortrag im Rahmen der Vortragsreihe MUKmeetsIFK