Institutionenroman. Ein Romantyp in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und seine Theorie
Das Vorhaben ist Teil eines weitergreifenden Interesses am Roman und dem Platz des Literarischen in unserer Kultur. Literarische Form war alteuropäisch durch Fragen des Passenden bestimmt: Gattungen „passten“ zu Gegenständen, Schreibweisen zu Anlässen. Der Roman seit dem 18. Jahrhundert ist in dieser Hinsicht formlos. Form herzustellen wird die Aufgabe in Auseinandersetzung mit dem Leben selbst.
Der Bildungsroman des 18. Jahrhunderts war die erste große Antwort auf diese Situation, seine Theorie lebenswissenschaftlich im Sinne der Biologie. Am Anfang des 20. Jahrhunderts taucht ein Gegentypus auf, ablesbar daran, dass der Held zu Beginn in einen institutionellen Raum eintritt, den er am Ende verlässt. Es sind Räume, die Leben in einem sozialen Sinn definieren: Schule, Hospital, Bürokratie und Gericht. Von Joyce und Musil bis Thomas Mann und André Gide geht es darum, wie diese Umkehrform des Bildungsromans unseren Blick auf Literatur und Theorie im allgemeinen Sinn – von Simmel bis Lukács, in Phänomenologie und Kritischer Theorie – geprägt hat.
Rüdiger Campe ist heute Professor für deutsche Literatur und Komparatistik an der Yale University. Nach der Promotion in Freiburg und der Habilitation in Essen war er zunächst Professor an der Johns Hopkins University gewesen. Er hat den Aby-Warburg-Preis erhalten sowie den Forschungspreis der Humboldt-Gesellschaft, er war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und am Whitney Humanities Center von Yale. Seit seiner Dissertation zur Transformation der rhetorischen Erregung in den literarischen Ausdruck (1990) geht es in seinen Arbeiten immer wieder darum, den Ort des Literarischen in der Moderne seit dem 17. und 18. Jahrhundert zu beschreiben. Sein Interesse an Rhetorik und Ästhetik, Drama und Roman und an Überschneidungen der Literatur mit Recht und Wissenschaft steht in diesem Zusammenhang. Campe hat darüber hinaus zu systematischen Konzepten wie Evidenz, Verfahren und Schreibszene gearbeitet. Einen Versuch zur Reformulierung literarischer Kommunikation stellen seine Ansätze zu einer Geschichte und Theorie der Fürsprache dar.
Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 2002; engl. Übers. Ellwood Wiggins, Stanford 2012; „Form und Leben in der Theorie des Romans“, in: Armen Avanessian, Winfried Menninghaus, Jan Völker (Hg.), Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Zürich, Berlin 2009, S. 193–211; engl. Übers., in: Constellations 18 (2011), S. 53–66; „Robert Walsers Institutionenroman Jakob von Gunten“, in: Rudolph Behrens, Jörn Steigerwald (Hg.), Die Macht und das Imaginäre, Würzburg 2005, S. 235–250.
In Orson Welles' Verfilmung des "Process" trifft K. in seinem Großraumbüro unversehens auf einen Computer. Einer von vielen Einfällen des größten Theatralikers des Kinos, die zeigen, was Kafka erzählt: Romanmenschen durchlaufen bei ihm nicht mehr Stationen ihrer Bildung; Geschichten sind aus Institutionen gemacht, die das Leben formatieren.