Sarah Kolb
ifk Junior Fellow


Zeitraum des Fellowships:
01. Oktober 2005 bis 30. Juni 2006

Der schöpferische Augenblick. Bergsons Methode der Intuition und die historischen Avantgarden



PROJEKTBESCHREIBUNG

Im beginnenden 20. Jahrhundert ist Paris nicht nur Paradebeispiel einer vom Modernismus gezeichneten Metropole, sondern auch Wirkungszentrum eines berühmt-berüchtigten Philosophen, der mit seiner méthode de l’intuition einen Gegenentwurf zum einseitig aufklärerischen Plädoyer auf Rationalisierung entwickelt: Henri Bergson ist Apologet eines unerschöpflich-schöpferischen élan vital und einer radikal neuen Auffassung der Zeit, die er nicht länger als Aufeinanderfolge distinkter "Punkte" in einem messbaren Medium, sondern als autonome Qualität und Kontinuität verstanden wissen will – und damit als metaphysische Wirklichkeit einer durée, die so undifferenziert und alternierend (im Sinne von stetig anschwellend) ist, dass sie sich analytischem Denken entzieht und bestenfalls intuitiv erfasst werden kann. Paradox genug, dass Bergson mit der Intuition eine "Methode" zur Wahrnehmung der Dauer einführt, folgt sie doch keineswegs Gesetzen der Zeit oder einer Ökonomie ausschnitthafter Aufmerksamkeit. Intuition impliziert Bewegung und Veränderung, ist verdichtete, ja poetische Erfahrung und mithin ein Inbegriff schöpferischen Bewusstseins. So kommt es nicht von ungefähr, wenn sich gleichzeitig die Erneuerungsbestrebungen im Bereich der bildenden Künste zu überschlagen beginnen. Was in der Kunstwelt en vogue ist, ist in einem Wort: die Avantgarde. Ist ein intuitives Moment, ist ein befreiender und zukunftsweisender Blick; ist eine Ästhetik der Geschwindigkeit, des Prozessualen, komplexer Konstruktionen und Fragmentierungen; ist das Experimentieren mit bisher ungenützten Materialien, Medien und Techniken; ist ein programmatischer Zugang, der auf eine Integration von Kunst, Wissenschaft und Politik zielt; ist Kunstpraxis als Lebenspraxis. Ob in der analytischen Optik der Kubisten oder im Simultaneismus und Dynamismus der Futuristen, ob im Sozialutopismus der Konstruktivisten oder in der Aleatorik der Dadaisten, ob im strategischen Irrationalismus der Surrealisten oder im Arationalismus eines Marcel Duchamp, der so weit geht, sich selbst zum "A-Künstler" und sein Leben zum Kunstwerk zu erklären. In den diversen Methoden der Avantgarde zeitigt sich eine Konzentration auf jenen schöpferischen Augenblick, der allein eine Brücke zwischen Tradition und Innovation zu schlagen ermöglicht. Ziel des Projekts ist es, die Rezeption bergsonschen Gedankenguts durch ausgewählte Positionen der Avantgarde im Spektrum zwischen rational-missverständlicher Wiedergabe und intuitiv-produktivem Nachvollzug zu verfolgen. Bergson selbst jedenfalls war einer wie auch immer gearteten Reproduktion oder Simulation seiner Ideen mit Skepsis begegnet: "For the arts, I would prefer genius, and you?"



CV

Mag. phil., Studium: Philosophie, Kunstgeschichte, Psychologie und Physik an der Universität Wien



Publikationen

Die Dauer und das Andere. Philosophische Reflexionen über das schöpferische Universum des Henri Bergson, Diplomarbeit, Wien 2002, http://sammelpunkt.philo.at:8080/archive/00000808; Aufmerksamkeit für sich allein ist ein Vergrößerungsglas, in: Katalog Fabian Seiz: O.T., Wien 2005, S. 19–24; Virtualität ist eine Frage der Faltung. Über Windungen, Gedächtnislücken und Gedankensprünge. Zu den Arbeiten von Fabian Seiz, in: Lebt und arbeitet in Wien II, Kunsthalle Wien, Wien 2005, S. 169–171; Neu/Zeit/Welt/All/Schau. Zur utopologischen Verfassung des Menschen, in: Jutta Strohmaier (Hg.), Panorama, Wien 2005.