Sexualität. Ehe. Gericht. Das Sprechen über Sexualität in Ehegerichtsakten zwischen 1783 und 1938
„In dem Ehevertrage erklären zwey Personen gesetzmäßig ihren Willen, in unzertrennlicher Gemeinschaft zu leben, Kinder zu zeugen, sie zu erziehen, und sich gegenseitigen Beystand zu leisten.“ Die noch immer gültige Definition der Ehe in § 44 des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches verweist mit der Nennung der Zeugung von Kindern bereits auf einen Kernbereich der Ehe, die eheliche Sexualität, welche auch den Gegenstand des vorliegenden Projektes bildet. Bereits im 19. Jahrhundert wurden Thematiken wie die Leistung der „ehelichen Pflicht“ zum Geschlechtsverkehr vor Gericht ebenso angesprochen wie die Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten. Als „Brennpunkte“, welche ab dem 18. bzw. 19. Jahrhundert Diskurse über den Sex schufen, sind daher nicht nur die von Foucault genannte Medizin, Psychiatrie oder Strafjustiz anzuführen, sondern auch die Zivilgerichtsbarkeit. In diesem interdisziplinären Projekt werden Ehegerichtsakten aus dem Raum des heutigen Wien und Niederösterreich aus den Jahren 1783 bis 1938 unter anderem dahingehend untersucht, wie von verschiedenen AkteurInnen (wie zum Beispiel den Parteien vor Gericht, den Richtern und dem Gesetzgeber) über Sexualität gesprochen wird. Damit soll auf neuer Quellenbasis ein weiterer Beitrag zur Veranschaulichung der historischen Wandelbarkeit des Verständnisses von Sexualität geleistet und Brüche und Kontinuitäten im Sprechen über Sexualität im Zeitraum von 150 Jahren sichtbar gemacht werden.
Stephanie Rieder-Zagkla absolvierte ein Studium der Rechtswissenschaften, gefolgt von einem Studium der Geschichte an der Universität Wien, und arbeitete als juristische Mitarbeiterin in einer Anwaltskanzlei. In ihrem interdisziplinären Dissertationsprojekt beschäftigt sie sich mit der Thematisierung von Sexualität in Ehescheidungs- bzw. Eheannullierungsverfahren im Gebiet des heutigen Wien und Niederösterreich zwischen 1783 und 1938. Von Juni 2017 bis Juli 2018 war sie Praktikantin des FWF-Forschungsprojektes Eheprozesse zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert. Seit 2019 ist Stephanie Rieder-Zagkla DOC-team-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Institut für Geschichte der Universität Wien und arbeitet gemeinsam mit Kolleginnen aus den Fachbereichen Geschichte und Soziologie am interdisziplinären DOC-team-Projekt Doing Divorce: Scheidungsprozesse vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sexualitätsgeschichte, Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie Rechtsgeschichte der Neuzeit, siehe https://doingdivorce.univie.ac.at/. Im Studienjahr 2020/21 war sie ÖAW/IFK_Junior-Fellow.
Bereits seit Jahrhunderten tragen Ehepaare ihre Scheidungskonflikte vor Gericht aus. Verhandelt werden dabei seit jeher (und bis heute) auch Themen der ehelichen Sexualität. Stephanie Rieder widmet sich in ihrem Vortrag der Thematisierung der ehelichen Pflicht zum Geschlechtsverkehr in Ehegerichtsakten zwischen 1783 und 1938.