Die ambivalente Rhetorik der österreichischen Sozialdemokratie in Migrationsdebatten vor 1914
Migration war vor der Covid-Pandemie das Thema, das in Medien und Politik am heftigsten polemisierte. Seit ihrer Gründung propagierte die Sozialdemokratische Partei internationale Solidarität für eine wachsende Arbeiterklasse. Doch bereits im 19. Jahrhundert fürchteten Sozialdemokrat*innen, dass diese Neuankömmlinge eine Bedrohung am Arbeitsmarkt oder für die Vorrangstellung der deutschen Kultur und Sprache darstellen würden. Es kann daher festgehalten werden, dass internationale Solidarität tatsächlich Grenzen hatte. Gillingers Forschungsprojekt behandelt diese der österreichischen Sozialdemokratie vor 1914 immanente Ambivalenz. Es leistet einen bisher ausstehenden Beitrag zur Erforschung des globalen Phänomens der Migration und der politischen Rhetorik, der nicht nur für das Fach Geschichte, sondern auch für verschiedene internationale akademische Bereiche, darunter die Migrations- und Flüchtlingsforschung, von Bedeutung ist.
Theresa Gillingers Forschungsinteresse im Bereich antisemitischer und xenophober Diskurse in der Arbeiterbewegung der späten Habsburgermonarchie entwickelte sich bereits während ihres Geschichtsstudiums an der Universität Wien. Forschungen zur medialen Rezeption des jüdischen Wiener Varieté-Theaters »Budapester Orpheumgesellschaft« führten sie schließlich zum Thema ihres Dissertationsprojekts: der ambivalenten Rhetorik der Sozialdemokratie in Fragen der Migrationspolitik vor 1914. Nach ihrem Diplomabschluss 2019 begann sie als Projektmitarbeiterin bei Tamara Scheer am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien Erfahrungen mit der Organisation und Begleitung internationaler wissenschaftlicher Forschungsprojekte zu sammeln, unter anderem durch organisatorische Mitarbeit an der Tagung »Zwischen Kronen und Nationen« in Rom. Ihr Tagungsbericht wurde u. a. in der Zeitschrift Spiegelungen publiziert.
Otto Bauer schrieb 1907, dass sich die Arbeiterklasse »[...] nicht allen Formen der Einwanderung gegenüber gleichartig verhalten [...]« kann.1 Die Rhetorik österreichischer Sozialdemokrat*innen war bereits in Migrationsdebatten der späten Habsburgermonarchie ambivalent. Inwiefern offenbarte sich dieses Spannungsverhältnis?