Coquelin beschreibt die Schauspieler_in 1894 als doppelte Persönlichkeit, Archer entwickelt 1888 eine Theorie des „automatic acting“, wonach Schauspiel über weite Teile unbewusst passiert, und Martersteig fordert 1900 einen Schauspielstil, der Hypnose und Suggestion berücksichtigt. Rosemarie Brucher geht diesen Einschreibungen des Dissoziativen auf den Grund.
Die Überlegung, welchen Einfluss mimetische Praktiken auf die Identität von Schauspieler_innen haben, beschäftigt seit Platon die theoretischen Auseinandersetzungen mit Schauspielkunst. Sie bedingt auch deren zentrale Streitfrage seit dem 18. Jahrhundert, nämlich ob Schauspieler_innen die Gefühle ihrer Rolle fühlen („heiße Schauspieler_in“) oder aber selbst unbewegt bleiben sollen („kalte Schauspieler_in“). Die These des Vortrags lautet, dass Modelle des Dissoziativen, das heißt des doppelten Bewusstseins, der Suggestion, des Somnambulismus oder auch der Hypnose, ab 1890 die Konzeption „kalte“ vs. „heiße“ Schauspieler_in abzulösen beginnen, da sie es nun ermöglichen, beide Haltungen zu vereinen. Denn Modelle der Spaltung erlauben eine Gleichzeitigkeit von Durchlässigkeit und Abgrenzung zur Rolle, indem man nicht mehr aufhören muss, man selbst zu sein, um ein anderer sein zu können. Im Zuge dessen wird Schauspiel um 1900 als Praktik des Dissoziativen entdeckt, die dazu beiträgt, eine neue Subjektivierungsform zu etablieren – das multiple Ich.
Rosemarie Brucher studierte Theaterwissenschaft, Germanistik und Komparatistik in Wien und Leipzig. Seit 2013 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Genderforschung der Kunstuniversität Graz beschäftigt und arbeitet aktuell an ihrer Habilitation zum Thema Theater & Bewusstsein: Psychowissenschaftliche Einflüsse auf Schauspieltheorien um 1900 im Rahmen ihres IFK_Research Fellowship.
Ort: IFK
Zurück